Vierte Szene, dritter Akt. Luise und Ferdinand treffen sich in Millers Wohnung. Nachdem in der letzten gemeinsamen Szene, Szene sechs, Akt zwei, es fast zur Inhaftierung der Millers gekommen ist, steht nun ein für den weiteren Verlauf der Geschichte tragender Handlungsstrang an. Ferdinand kündigt seinen Plan an, mit Luise zu fliehen, um sich so dem Einfluss seines Vaters zu entziehen. Luise hingegen möchte lieber verharren und die Beziehung zu Ferdinand aufgeben. Sie fühlt sich schuldig, gegen die von Gott gegebene Ordnung der Stände verstoßen zu haben. Ferdinand erkennt dies nicht an. Er zweifelt massiv an der Treue Luises, was quasi den psychologischen Grundstein für seine spätere naive Leichtgläubigkeit darstellt, mit der er die Echtheit des Liebesbriefs von Luise an den Hofmarschall annimmt. Dieser war gefälscht worden, um Ferdinand zu täuschen und ihn dazu zu verleiten, in einem Schwall von Eifersucht seine Beziehung zu Luise zu beenden. Luise, bisher hin und her gerissen zwischen der Anerkennung der Ständeordnung bzw. der Angst vor Ferdinands Vater und ihrer Liebe zu Ferdinand, macht in dieser Szene eine klare Aussage zu Ungunsten Ferdinands. Dieser, fanatisch in Luise verliebt, reagiert daraufhin aggressiv. Luise beginnt diese Szene mit: „Ich bitte dich, höre auf.“ Das Gespräch zwischen beiden läuft wohl schon eine Weile. Ferdinand kommt auf seine, seinem Vater gegenüber geäußerte Drohung (II/6) zu sprechen. Er scheint bereit zu sein, seinen Vater tatsächlich zu verraten: „Wut und Verzweiflung werden mir das schwarze Geheimnis seiner Mordtat erpressen.“ Ferdinand meint, dass er erst durch den Verrat an seinem Vater unmenschlich werden würde. Die Tatsache, dass er ansonsten stillschweigend von dem Mord des Vaters profitiert, durch den dieser in sein Amt kam, scheint ihm wohl vollkommen menschlich.
„Der Sohn wird den Vater in die Hände des Henkers liefern – Es ist die höchste Gefahr – und die höchste Gefahr musste da sein, wenn meine Liebe den Riesensprung wagen sollte. -- Höre, Luise – ein Gedanke, groß und vermessen wie meine Leidenschaft, drängt sich vor meine Seele – Du, Luise, und ich und die Liebe! -- Liegt nicht in diesem Zirkel der ganze Himmel?“
Die in Gedankenstriche gesetzten Einschübe in dieser Rede vermitteln den Eindruck, als ob sich Ferdinands Gedanken überschlagen. Es stellt sich die Frage, ob sie dies aus Verunsicherung und Panik tun oder ob Ferdinand nicht insgeheim diesen Moment genießt, meinte er doch in Szene vier, Akt eins, dass die Gefahr seine Luise nur noch reizender für ihn macht. Auch liegt es nahe, dass Ferdinand als Sohn des Präsidenten sich nie größeren Widerständen gegenüber sah und dieser Konflikt eher eine Herausforderung als eine Bedrohung für ihn darstellt. Ganz im Gegensatz zu Luise. Ihre Leidenschaft ist nicht gar so „vermessen“ wie die von Ferdinand. Sie unterbricht seine Rede in dem Moment, in dem sie erkennt, dass er mit ihr fliehen will, aber lässt ihn sogleich weiterreden. Sie befindet sich immer noch in ihrem inneren Konflikt. Sie bezeichnet ihre Beziehung mitunter als schönen Traum (I/3), von dem sie sich gerne blenden lässt. Allerdings hat sie auch schon seit Beginn des Stücks Zweifel an einem glücklichen Ausgang. Ferdinand reagiert auf Luises kurzen Einwand mit Schmeicheleien und einer idyllisch, unrealistisch dargestellten Zukunft im Exil: dort wo er mit Luise hin fliehen möchte, soll eine Sonne auf- und eine untergehen. Ferdinand scheint das starke Verhältnis, welches Luise zur Kirche hat, nicht zu teilen. Er hält einen Fußstapfen Luises im Wüstensand für interessanter als das geschmückte Kirchengebäude seiner Heimat. Nun, nach circa einem Drittel der Szene, wird Luise aktiv. Sie fordert Ferdinand auf, sie von nun an in Ruhe zu lassen. Sie könne nicht fliehen, da ihr Vater, ein knapp 60 Jahre alter Mann, sich nicht der Rache des Präsidenten entziehen könne. Ferdinand erwidert rasch, dass ihr Vater sie sicherlich begleiten würde. Ganz so als könne man von Herrn Miller keine Widerworte erwarten. Ferdinand möchte zur Finanzierung der Flucht Schulden zu Lasten seines Vaters machen, sozusagen den Räuber ausrauben. Doch Luise hat Bedenken. Sie glaubt an eine höhere Macht, die ein solches Verbrechen ahnden würde. Selbst Ferdinand sei ihr einen solchen Frevel nicht wert. Sie betont, dass ihre Beziehung generell eine gegen die Gott gegebene Ständeordnung verstoßende Verbindung wäre und sie diese nun beende: „Mein Anspruch war Kirchenraub, und schaudernd geb ich ihn auf.“ Auf diese Worte reagiert Ferdinand schon mit unterschwelliger Aggression. Noch ist diese gegen ihn selbst gewandt und zeigt sich dadurch, dass er „das Gesicht verzerrt und an der Unterlippe nagend“ ihre Worte wiederholt: „Gibst du ihn auf.“ Man kann aber an dieser Stelle schon erahnen, dass es nicht dabei bleiben wird. Diese letale Kombination von Selbstüberschätzung (u.a. zu erkennen in Akt eins, Szene vier, als er meint, er könne sich zwischen Luise und das Schicksal stellen) und seiner Ignoranz gegenüber allen Umständen (wie beispielsweise gegenüber Luises Vater in dieser Szene), sowie der Besitz ergreifenden Art bzw. der Forderung nach bedingungsloser Liebe (I/4), lassen vermuten, dass Ferdinand sich im weiteren Verlauf zu einem gemeingefährlichen Psychopathen entwickeln wird. Luise verdeutlicht nochmals ihre Vorstellung einer allgemeinen ewigen Ordnung und einer richtenden höheren Gewalt. Sie sucht die Schuld für ihre momentane Misere vollständig bei sich: „mein Unglück ist meine Strafe“. Man kann mutmaßen, dass sie diese strenge Glaubensauffassung von ihrem Vater hat, da dieser versuchte, ihr christliche Verhaltensweisen anzuerziehen (I/1). In Szene vier, Kapitel eins, hat Ferdinand rhetorisch gefragt, wer die Töne eines Akkords, ein Sinnbild für ihre Liebe, auseinander reißen kann. Nun gibt er eine Antwort. Er hat, während Luise geredet hat, des Geigers Violine ergriffen, versucht darauf zu spielen und als er scheitert, zerschlägt er diese. Die Harmonie zwischen ihnen ist zerrissen. Luise versucht, den Tränen nahe, erneut der Situation einen glimpflichen Ausgang zu verschaffen. Sie appelliert an Ferdinand: er hätte eine Bessere verdient. Es fällt ihr zwar schwer, aber sie war doch von Anfang an auf diesen Moment der Trennung fixiert. Sie versucht ihrer Beziehung ein theatralisches Ende zu verleihen: „Doch werd ich noch je und je am verwelkten Strauß der Vergangenheit riechen. Leben Sie wohl, Herr von Walter.“ In jeder Szene des bisherigen Stückes kommt Luise auf das Scheitern, mehr noch auf das bittere Ende der Beziehung zu sprechen. Hier, kurz vor Schluss, bricht die Szene erneut um: Ferdinand fragt noch einmal, ob sie wirklich nicht mit ihm fliehen wolle. Als sie verneint, ändert er schlagartig die Redensart: „Schlange, du lügst. Dich fesselt was anderes hier. [...] Ein Liebhaber fesselt dich, und Weh über dich und ihn, wenn mein Verdacht sich bestätigt.“ Er vermutet nicht nur, dass Luise einen anderen haben könnte, sondern er formuliert seine Vermutung als Tatsache und relativiert diese dann in einem Nebensatz. Dies ist eine optimale Voraussetzung für die in den folgenden Kapiteln gesponnene Kabale.

14 Notenpunkte
Bemerkung des Lehrers:
Die Übung ist sprachlich und inhaltlich gut gelungen. Es fehlt allerdings der Hinweis auf die Bedeutung dieser Szene für das gesamte Drama (Perspektive). Auch auf die Kontrastierung Liebe - Pflicht wird zu wenig eingegenagen.

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Author: Per Guth
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