Zu bearbeitender Text:
„Wie war das vor elf Jahren? Mit dem Glück der gewonnenen Einheit, das wir in Berlin und überall in Deutschland gefeiert haben, und das wir auch heute, elf Jahre später, Anlass haben zu feiern - mit diesem großen Glücksgefühl war bei vielen von uns die Hoffnung verbunden, die verheißungsvolle Erwartung, dass das Ende des Ost-West-Konflikts, das Ende des Kalten Krieges ein Goldenes Zeitalter des Friedens eröffnen könnte. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.[...]
Nach einem Jahrzehnt nachholender Modernisierung die dem westlichen Muster zu folgen hatte, fühlen viele Ostdeutsche sich immer noch als Lehrlinge – weil sie lange auch so behandelt worden sind – und zweifeln, ob jede Problemlösung dieser Jahre wirklich der Weisheit letzter Schluss gewesen sei. Ich finde, wir müssen in Ostdeutschland dieses Gefühl der Zurücksetzung überwinden und wir haben auch alle Chancen dazu.
Was in elf Jahren erreicht wurde, ist sehr viel und wahrlich kein Grund zur Klage: Der Zerfall der Innenstädte wurde gestoppt; Dresden, Erfurt, Görlitz, Rostock, Leipzig, Potsdam und viele andere traditionsreiche Städte strahlen in neuem Glanz. Der Ausbau der Infrastruktur ist sehr weit fortgeschritten und hat stellenweise den im Westen Deutschlands sogar überholt. Sieht man vom Einbruch des Bausektors ab, hat es in Ostdeutschland im vergangenen Jahr ein erfreuliches Wachstum gegeben. Die sozialen Sicherungssysteme funktionieren, das Bildungswesen, die Universitäten haben nach der Umstellung ein hohes Niveau erreicht. Die Umstellung der Landwirtschaft kann weitgehend als Erfolg gefeiert werden. Die Menschen haben individuell eine hohe, kaum zu unterschätzende Leistung in dieser ungeheuer schnellen Transformation erbracht. Darauf darf man stolz sein.
Aber wir haben auch Sorgen. Wir sorgen uns um die Abwanderung junger und qualifizierter Menschen. Wir haben lediglich Inseln des Wachstums, was sich in der Fläche kaum auswirkt. Die wirtschaftliche Kluft zwischen West und Ost ist sogar größer geworden. Bei der beschriebenen Mentalität, den verbreiteten Benachteiligungsgefühlen werden diese Tatsachen natürlich viel eher zur Kenntnis genommen als die positiven Entwicklungen.
Ich rate deshalb, dass Ostdeutschland sich wesentlich stärker auf die eigenen Kräfte besinnt,[...]
An westdeutscher Solidarität mangelt es dabei nicht, wie der neue Solidarpakt und der Länderfinanzausgleich beweisen. Damit und mit dem Sonderprogramm für den Städtebau, mit der Schwerpunktsetzung bei der Förderung von Investitionen und Existenzgründungen, mit der Stärkung regionaler Kompetenzen der ostdeutschen Länder und Gemeinden, und mit einer stärkeren Förderung von Wissenschaft und Forschung sind die Weichen in die richtige Richtung gestellt.
Wenn man auch einräumen muss, dass das, was wir die innere Einheit nennen – mit all ihren ökonomischen, politischen, kulturellen und mentalen Faktoren –, immer noch zerbrechlich ist, so muss man doch betonen: Die Einheit kann, sie muss und sie wird gelingen, wenn wir in ihrem nun beginnenden 12. Jahr den beschriebenen Perspektivenwechsel vornehmen. Es bleibt ein großes Glück, dass wir uns im Herbst 1989 die Freiheit erkämpft haben. Die noch bestehenden Mängel können – mit einiger Mühe gewiss – beseitigt werden. Diese gemeinsame Aufgabe anzupacken sollte uns jede Anstrengung wert sein.“
- Wolfgang Thierse, Rede zur deutschen Einheit in Mainz 2001
Vollständige Rede
Analyse:
Vor zahlreichen Gästen aus dem In- und Ausland hielt Wolfgang Thierse, damaliger und aktueller Abgeordneter der SPD, sowie ehemaliger Bundestagspräsident, am 3. Oktober 2001 in Mainz eine Rede zum Tag der Deutschen Einheit.
Die ganze Rege basiert auf der Prämisse: "Es wächst zusammen, was zusammen gehört". Herr Thierse formuliert die Erwartungsaltung vieler Deutscher nach dem Mauerfall 1989, bennent dann das je nach Standpunkt Ost oder West unterschiedlich bewertete Erreichte. Er betont die Eigenverantwortung des Ostens und fordert zugleich dessen weitere solidarische UNterstützung durch die westlichen Bundesländer.
Mit der rhetorischen Frage nach dem, wa sich vor elf Jahren ereignete, eröffnet Wolfgang Thierse seine Rede.
Er belebt bewegende Emotionen wieder, sichert sich die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer und lenkt diese auf das vergangene Ereignis.
Dieses bezeichnet er in einem langen Satz, dessen Aufbau viele Nebensätze und dessen Inhalt viele emotional geprägten Worte enthält,
als gewonnenes Glück und assoziiert damit [-Satzbau] Glücksgefühle, Hoffnung und verheißungsvolle Erwartungen.
In einem anschließenden kurzen Satz, der zum vorher gesagten [-abstrakt, inhaltslos] kontrastiert, werden diese Erwartungen als nicht eingetroffen benannt.
Wolfgang Thierse beginnt nun den zweiten Abschnitt, in welchem er sich auf den Ist-Zustand konzentriert, mit den Gefühlen der Ostdeutschen, als Lehrlinge behandelt worden zu sein, die zwar handeln können, dabei aber immer unter Aufsicht und Kontrolle eines Anderen stehen,
was er duch eine in Gedankenstriche gefasste Bestätigung unterstreicht. Es folgt die Aufforderung, diese Gefühle der Zurücksetzung zu überwinden, welche durch eine Aufzählung des Erreichten auf dem Weg zur deutschen Einheit untermauert wird [- abstrakt, inhaltslos]. Die negative Entwicklung im Bausektor, der stagniert, steht direkt hinter einem Satz, der die genüber dem Westen teilweise bessere Infrastruktur hervorhebt. Diese negative Feststellung wird weiter abgeschwächt, indem sie dem erfreulichen wirtschaftlichen Wachstum im Jahr 2000 gegenübergestellt wird. Den Umbau der Landwirtschaft wertet Wolfgang Thierse weitgehend als Erfolg und einem guten Weg.
So bleibt die Aufzählung in iherer Gesamtheit positiv und bekräftigend, aber zeigt dennoch, dass noch Problembereiche vorhanden sind, an denen man arbeiten muss.
Das Lob der Leistung am Ende der Aufzählung wirkt noch einmal gegen das Gefühl der Zurücksetzung. Die Begründung dafür wurde vorher in Form der Aufzählung dargelegt, da der zweite Textabschnitt in seiner Gesamtheit eher auf eine emotionale Beschwichtigung und Stärkung abziehlt als auf eine sachliche Diskussion.
Mit der Aussage: "Aber wir haben auch Sorgen", werden vorangegangene Probleme relativiert und alssen diese eher als Lappalien erscheinen. Es werden nun Probleme wie Abwanderung junger Menschen genannt und es wird bildlich beschrieben, dass das Wachstum nicht flächendeckend ist, sondern sich auf "Inseln des Wachstums" beschränkt.
Positive und negative Entwicklungen scheinen sich aber dennoch die Waage zu halten. Wolfgang Thierse empfiehlt
dem personifizierten Ostdeutschland, sich [-?] stärker auf die eigenen Kräfte zu besinne.
Im darauf folgenden Abschnitt wird beschrieben, wie Westdeutschland seine Solidarität zum Ausdruck bringt, wobei mehrere konkrete Fördermaßnahmen in einem längeren Schachtelsatz untergebracht wurden und so eine gewisse Fülle widerspiegeln. Im letzten Sinnabschnitt geht Wolgang Thierse wieder unter Verwendung von Gedankenstricken, Aufzählungen und Nebensätzen auf die Einzelheiten dessen ein, was die innere Einheit ausmacht und betont, dass sie ganz sicher gelingen wird.
Die starkre Verwendung von Nebensätzen, Gedankenstrichen und Aufzählungen zeiht sich durch den gesamten Text, was der Inhaltlichen Komplexität entspricht und einen gehobenen Sprachstil vermittelt. Der Text appeliert an alle deutschen Bürgerinnen und Bürger und enthölt gegen Ende des Textes konkrete Fördermaßnahmen.
Er ist in drei grobe Sinnabschnitte gegliedert: der Rückblick auf Erwartungen und Wünsche, der Ist-Zustand, seine Probleme und Chancen und der abschließende Abppell für die Zukunft.
Alles in allem stellt der Text einen Aufruf dar, den begonnen Weg, den Weg zur Einheit, weiterzugehen, auch wenn es einige, überwindbare Schwierigkeiten gibt. Also entspricht die Rede genau dem, was man von einer Rede zum Tag der deutschen Einheit erwartet: eine inhaltlich einfach gehaltene Rede, die jedermann versteht, die allgemein gut zuredet und dennoch einen gehobenen Eindruckt macht.